Endstation Seligkeit

Die Nonnen von Shaolin

von Jörg Multhaupt

 

Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Schon oft hatte ich diesen Satz gehört. Doch angesichts dieser steinernen Treppe, die sich irgendwo jenseits der Wolken zu verlieren schien, bekamen diese Worte für mich eine ganz neue Bedeutung. Ich stand mitten im Song Shan-Gebirge in der chinesischen Provinz Henan: Um mich herum ragten die Berge wie stumme Wächter, die den fragenden Ausdruck auf meinem Gesicht beim Anblick dieses in Fels gehauenen Aufganges wohl schon unzählige Male gesehen hatten. Und wenn sie ihr Schweigen hätten brechen können, dürfte meine Anwesenheit bei ihnen wohl ebenso viele Fragen aufgeworfen haben, denn die vor mir liegende Treppe führte direkt zum Nonnen-Kloster von Shaolin. "Rundaugen" wie ich - und dazu noch männlich - verliefen sich nur selten hierher. Diesen beschwerlichen Weg gingen meist nur chinesische Frauen, die als Nonnen in Shaolin die Seligkeit finden wollten. Doch beginnen wir der Reihe nach.

 

Schon viele Male war ich in den vergangenen Jahren in China und habe dabei fast immer das Shaolin-Kloster besucht. Jenes berühmte Kloster, das vor über 1500 erbaut wurde und das seither eine sehr bewegte Geschichte erfahren hat. Im Mittelpunkt standen dabei immer die Mönche, die dort beten und meditieren, sich aber gleichzeitig im Verlauf von vielen Generationen zu großen Meistern des Kung Fu entwickelt haben, was letztendlich ihren legendären Ruf auf der ganzen Welt begründet hat.

Das Frauenkloster liegt abgelegen in den Song Shan Bergen in der Nähe des Shaolin-Klosters

 

Im Schatten der berühmten Brüder

Gleichzeitig ist das Shaolin-Kloster aber auch Ursprungsort des in China weit verbreiteten Chan-Buddhismus. Aus diesem Grund beten und meditieren dort nicht nur Mönche, sondern auch Frauen.

Allerdings steht das Frauenkloster, das einige Kilometer hinter dem Shaolin-Kloster in den Bergen von Song Shan liegt, seit jeher im Schatten der berühmten Brüder, sodass sich dorthin nur sehr wenige Menschen verirren. Dies galt im Grunde genommen bis zu diesem Tag auch für mich, denn obwohl ich wie gesagt schon oft in Shaolin war, hatte ich bisher noch nie das Frauenkloster besucht.

 

„Himmelsleiter“

Der Weg dorthin war anfangs beschwerlich, und erst so nach und nach verlor sich der Trubel um das berühmte Shaolin-Kloster. Zusammen mit meinem chinesischen Freund Yuan Yongjun, der mir auch als Übersetzer zur Seite stand, tauchte ich jedoch bald in eine sehr idyllische Landschaft ein. So kamen wir an Reisfeldern vorbei, auf denen einige Bauern schweigend ihr Tagewerk verrichten. Nur hin und wieder wurde die Stille von dem Zirpen der Grillen oder dem Trillern eines Vogels unterbrochen.

Ja, und dann standen wir plötzlich vor dieser endlos scheinenden Steintreppe. Mein fragender Blick sprach wohl Bände, denn Yuan deutete lächelnd nach oben. Genau da mussten wir rauf, wenn wir zum Frauenkloster wollten.

Das Reich der Mitte hatte mich schon so manches Mal überrascht, aber eine derartige „Himmelsleiter“ hatte ich bisher noch nie gesehen. Noch immer erstaunt setzte ich mein Fuß auf die erste Stufe. Schließlich hatte ich keine Wahl. Ich wollte zum Chu Zu-Tempel, in dem das Frauenkloster von Shaolin untergebracht ist. Und der einzige Weg führte über diesen steinernen Pfad nach oben. Der zweite Stufe folgte.

 

Unwissentlich ins Fettnäpfchen getreten

Unzählige Stufen hatten wir hinter uns gelassen, als wir nach ca. 20 Minuten den Tempel erreichten. Wir traten durch das Hauptportal auf den Innenhof der Klosteranlage. Dort sahen wir eine Nonne, die vor der Haupthalle saß und tief versunken in einem Buch las. Von Yuan erfuhr ich, dass sie sich mit Sutren beschäftigte. Als sie uns erblickte, lächelte sie freundlich und kam uns entgegen. Wir erklärten ihr, dass wir gerne mit der Äbtin des Frauenklosters sprechen wollten. Daraufhin wies sie uns den Weg vorbei an der Haupthalle zum privaten Bereich des Klosters, der im hinteren Teil der Anlage lag.

Ein großes Schild "Privatbereich - Zutritt untersagt" lies uns aber schnell wieder stehen bleiben. Freundlich fragten wir eine andere Nonne nach der Äbtin. Die Antwort war freundlich aber bestimmt: "Hier ist absoluter Privatbereich. Fremde haben keinen Zutritt. Nur Verwandte oder Bekannte der Nonnen dürfen mit einer Sondererlaubnis in diesen Teil des Klosters.“

Als wir der Nonne jedoch erzählten, dass ich aus Deutschland käme und gerne ein Interview mit der Äbtin führen wollte, sagte sie, wir sollten warten, während sie die Äbtin darüber informieren wollte.

Die Sonne zeigte sich an diesem Tage von ihrer besten Seite. Erbarmungslos schickte sie ihre Strahlen auf die Berge des Song Shan, sodass wir uns nach einigen Minuten des Wartens auf eine Schwelle setzten, die im Schatten der Haupthalle lag. Als die Nonne kurz darauf wieder zurückkam, blickte sie uns sehr böse an und sagte einige nicht laute, aber doch sehr bestimmende Worte zu meinem chinesischen Begleiter.

Auf meine Frage, was nun Anlass ihres plötzlichen Unmuts sei, sagte Yuan, dass wir auf der Schwelle zu einem Raum saßen, in dem eine Figur des Boddhitsatva der Barmherzigkeit war - und wir dieser Figur unwissentlich unseren Rücken zugewandt hatten. Darüber war die Nonne sehr böse, da unser Verhalten Respektlosigkeit gegenüber diesem Heiligen vermuten lies.

 

Prüfende Blicke

„Nun, das war unser erstes Fettnäpfchen,“ sagte ich zu Yuan. Ich hatte diesen Satz kaum beendet, als plötzlich eine Frau vor uns stand, deren prüfende Blicke wir nun standhalten mussten: Shi Yong Mei, die Äbtin des Frauenklosters von Shaolin.

Obwohl diese Frau durch ihren glattrasierten Kopf sehr streng aussah und sie uns auch sehr eindringlich betrachtete, war die Ausstrahlung dieser etwa 45-jährigen Frau doch sehr höflich und freundlich. Sie bat uns auf einen Platz, auf dem ein Tisch und einige Stühle standen. Nachdem wir Platz genommen und uns vorgestellt hatten, schaute sie auf mein buddhistisches Armband. Dieses Armband aus kleinen Sandelholzkugeln hatte mir vor Jahren ein Shaolin-Mönch geschenkt und diente mir seitdem als Talisman. Fragend sah mich die Äbtin an. Sie erkundigte sich über Yuan, ob ich an Buddhismus glauben würde. Diese Frage hatte ich ehrlich gesagt nicht erwartet, denn schließlich war ich hierher gekommen, um Fragen zu stellen. Allerdings hatte sie natürlich auch das Recht zu wissen, wer ihr da gegenübersaß bzw. wie ich über ihre Religion dachte. Und so sagte ich ihr wahrheitsgemäß, dass ich mich zwar seit Jahren damit beschäftige und sehr interessiert daran bin, mehr über diese Religion zu erfahren. Im Grunde genommen aber immer noch viel zu wenig darüber weiß, um mir ein genaues Bild vom Buddhismus zu machen. Daraufhin stand sie auf und ging weg. Zuerst dachten wir, dass ich mit dieser Antwort das nächste „Fettnäpfchen“ erwischt hätte. Doch kurz darauf kam sie zurück und schenkte mir auch ein Armband. Es war wie das, das ich schon hatte, nur waren die Kugeln aus Bernstein. Mein Begleiter sagte mir sofort, dass dies ein sehr seltenes und vor allem besonderes Geschenk sei. Damit war das Eis gebrochen, und so begann ich, meine Fragen zu stellen.

 

Das Rad des Lebens verlassen

Jörg Multhaupt: Wie viele Frauen leben hier im Kloster?

Shi Yong Mei: Insgesamt sind es ungefähr 20 Frauen, wobei jede Altersgruppe vertreten ist.

J.M.: Wie lange leben die Nonnen hier?

Shi Yong Mei: In der Regel ein Leben lang.

J.M.: Gibt es bestimmte Voraussetzung, die eine Nonne erfüllen muss, um hier leben zu können?

Shi Yong Mei: Zunächst einmal müssen sie gesund sein. Darüber hinaus müssen sie zwischen 18 und 25 Jahre alt sein und Abitur haben. Außerdem wird von Minderjährigen das Einverständnis der Eltern verlangt.

Weiterhin müssen alle Nonnen eine buddhistische Hochschule besuchen, das wird vom Staat vorgeschrieben. (Anmerk. d. Autors.: Es wird damit begründet, dass dies für die Weiterentwicklung des Buddhismus in China wichtig sei.) Hat sich ein Mädchen dazu entschlossen, im Kloster zu leben, vorher aber noch keine Hochschule besucht, kann sie das auch später nachholen. Viele können auch zur Probe drei bis vier Jahre im Kloster leben und sich dann entscheiden.

J.M.: Was bewegt eine Frau dazu, alles hinter sich zu lassen, um hier als Shaolin-Nonne zu leben?

Shi Yong Mei: Einige Frauen haben z.B. eine schwere Enttäuschung erlebt. Daraufhin wählen sie das Leben im Kloster, um hier tiefer in die Lehren des Buddhismus einzutauchen. Dies geschieht meist mit dem Ziel, so "das Rad des Lebens" verlassen zu können. Um dies zu verstehen, muss man die Lehren des Buddhismus kennen, bei dem normalerweise die Wiedergeburt im Zentrum steht. Die Nonnen hier wollen nicht wiedergeboren werden. Sie wollen in Ruhe leben, innere Ruhe erfahren und anderen helfen. So wie es der Buddhismus vorschreibt. Über diesen Weg des Lebens wollen sie ihre Seligkeit finden.

Die Äbtin des Frauenklosters Shi Yong Mei mit dem Autor und dem Dolmetscher Yuan Yongjun

 

 

Gesundheit, Stärke und ein langes Leben

J.M.: Wie sieht ein normaler Tag im Kloster aus?

Shi Yong Mei: Der Tag beginnt für uns um 3.30 Uhr mit dem Aufstehen. Um 4 Uhr beginnt der Buddhismus-Unterricht. Zeitgleich bereiten einige Nonnen das Essen vor. Nach dem Frühstück wird das Kloster gesäubert. Wenn jemand aus der Umgebung zur Messe kommt, halten wir für diese Menschen eine Messe im Tempel ab. Wenn nicht, geht der Tag z.B. mit Gartenarbeit oder anderen Arbeiten weiter. Gegen 17 Uhr wird das Kloster geschlossen. Danach folgt wieder Unterricht.

J.M.: Wird dabei auch eine spezielle Gesundheitsgymnastik unterrichtet, etwa ähnlich dem Tai Chi?  

Shi Yong Mei: Das morgendliche Tai Chi gehört für uns genauso dazu wie das morgendliche Gebet. Einige Nonnen beschäftigen sich aber auch regelmäßig mit speziellen Yijinjing-Übungen. Dies ist eine sehr alte und traditionsreiche Gesundheitsgymnastik, die von dem Mönch Bodhidharma vor rund 1500 hier im Shaolin-Kloster entwickelt wurde. Kernpunkt dieser Gymnastik ist, dass die Naturgesetze von Yin (negativ) und Yang (positiv) in einem harmonischen Einklang stehen. So werden beispielsweise durch das Ausführen der unterschiedlichen Übungen Geist, Atem und Energie  koordiniert. Dies führt wiederum zu einer Verbesserung des Kreislaufs und stärkt die Funktion der inneren Organe. Gleichzeitig hilft es, Gelenke und Muskeln zu entspannen. Wer dies Übungen regelmäßiger anwendet, dem sind Gesundheit, Stärke und ein langes Leben gewiss.

 

Kämpfen & Heilen

J.M.: Trainieren die Nonnen auch Kung Fu?

Shi Yong Mei: Ja, einige Frauen trainieren Kung Fu, denn wir stehen natürlich alle in der Tradition von Shaolin. Dazu gehört neben der Kampfkunst Kung Fu auch die traditionelle chinesische Medizin, die bei uns ebenfalls unterrichtet wird. So lernen die Nonnen hier einerseits spezielle Gesundheitsmassagen, andererseits aber auch den Einsatz von unterschiedlichsten Kräuter als Naturmedizin. Und das Alles garantiert ohne Nebenwirkungen. Denn das Kämpfen und Heilen hat nicht nur bei den Mönchen, sondern auch bei uns Nonnen eine lange Tradition.

Beim Stichwort Tradition bat ich nun die Äbtin Shi Yong Mei, ob wir von ihr und einigen anderen Nonnen noch Fotos machen dürften. Sie nickte freundlich und ein junges Mädchen brachte aus dem hinteren privaten Teil des Klosters verschiedene Waffen. Shi Yong Mei und zwei weitere Nonnen, ihre Namen waren Shi Yan Wu und Shi Yan Fa, zogen dazu extra ihre festlichen Gewänder an und zeigten uns einige Kung Fu-Stellungen.

Auf meine abschließende Frage, ob sie nicht Lust hätte, einmal Frauen aus Deutschland einzuladen und sie zu unterrichten, sagte Shi Yong Mei zu unserer Überraschung spontan zu. 

Der Abschied danach war sehr herzlich. Und während wir die “Himmelsleiter“ langsam wieder hinunterstiegen, winkten uns die Nonnen noch lange zu. Möge jede von ihnen die Seligkeit finden ...

 

Buddhismus, Frauen & Kung Fu

Lange Zeit wurde Buddha und seinen Lehren nachgesagt, dass er bzw. sie frauenfeindlich seien. Dies ging sogar so weit, dass den Frauen über viele Jahrhunderte hinweg der Eintritt in ein buddhistisches Kloster verweigert wurde. Mittlerweile ist jedoch bewiesen, dass die Textpassagen, auf die sich diese Behauptungen stützen, nicht von Buddha verfasst, sondern nachträglich in seine Schriften eingefügt wurden. Von daher gibt es im Buddhismus heute auch nicht mehr die strenge Unterscheidung zwischen „Männlein & Weiblein“, sondern entscheidend ist hier einzig und allein die innere Einstellung. Und damit stehen die Nonnen von Shaolin in einer ähnlichen Tradition wie die Frauen in den abendländischen Klöstern.

Der im Shaolin-Kloster praktizierte Chan-Buddhismus wurde im 6. Jh. n. Chr. von dem indischen Mönch Bodhidharma begründet. Vereinfacht ausgedrückt ist das Ziel des Chan-Buddhismus, einer oberflächlichen Betrachtung entgegenzuwirken und sich direkt dem Sinn und Geist des Lebens zu widmen. Das heiß, die charakterliche Vervollkommnung wird in den Mittelpunkt gestellt. Erreicht werden soll dies über Gebet, Meditation, der Beschäftigung mit der traditionellen chinesischen Medizin oder auch über das Kung Fu-Training, das letztendlich eine ähnliche Zielsetzung hat.